08.04.2008

Die Eintracht, mein Vater und ich

Es gibt zwei Punkte, die mir einfallen, wenn ich an die Eintracht denke: einen wunden und einen anderen, der - ganz streng genommen - eigentlich wiederum aus zwei Punkten besteht. Der wunde Punkt ist mein Vater und führt mich direkt in das Frühjahr 1980.

März 1980, Frankfurt am Main, Hauptbahnhof. Wenn mich nicht alles täuscht, gab es in der Moselstraße ein Schachcafé, in dem ich als 10-Jähriger eine spektakuläre Partie gegen meinen Vater spielte. Eine Gegend, vor der mich meine Mutter warnte - ausnahmsweise mit Recht warnte.

Ein paar Monate zuvor war ich 13 Jahre alt geworden. Bis dahin hatte ich meinen Vater gefühlte 13 Mal gesehen. In Wahrheit waren es nicht einmal 13 Mal, wie eine spätere Recherche ergab. Bis vor kurzem dachte ich auch, ich müsste wesentlich jünger gewesen sein - auch hier eine raffinierte Selbsttäuschung. Eine simple Rechenaufgabe beweist, ich bin in diesem Frühjahr 1980 13 Jahre alt. Jahr minus Geburtsjahr oder 1980-1966=14 (werdend). Mein Vater wohnte seinerzeit noch in der Schleusenstraße. Es sollte mein erstes gemeinsames Wochenende mit meinem Vater sein. Und ein besonders waghalsiges.

Schüchtern, ängstlich stand ich vor jenem Schachcafé, das ich in meiner Erinnerung in die Moselstraße verlege, unserem vereinbarten Treffpunkt. "Er wird nicht kommen. Er wird nicht kommen. Schmink Dir das ab!" Aber da stand er plötzlich vor mir und umarmte mich: "Mein Sohn.". Wir gingen Essen, Schaschlik mit Curry-Ketchup. Ich durfte kein Bier trinken, da war mein Vater sehr streng mit mir, aber ganz viel Cola.

Mein Vater stellte mich an jenem Wochenende all seinen Freunden - und wahnsinnig aufgestylten - Freundinnen vor: "Das ist mein Sohn." Ich roch in die bizarre Welt meines Vaters hinein, spazierte mit ihm von einer Spielhalle zur nächsten, durfte flippern, solange ich wollte. Und trank einen Becher Cola nach dem anderen. Und gefühlte tausend Augen bestaunten mich – oder bestaunten sie meinen Vater? Wieso konnte er 13 Jahre lang einen Sohn verheimlichen? Wie hatte er das geschafft? Diese Frage beschäftigte auch mich.

Am Sonntagabend brachte er mich, - meine Mutter wollte es so, - zum Bahnhof. Mein Zug nach Mainz wartete schon. Er streichelte mir über den Kopf. "Mein Sohn." Er nahm meine Hand, drückte einmal kurz zu. Mein Vater weinte und gab mir einen Umschlag. Ich verschwand schnell im Waggon, mein Vater drehte sich um und ging. Es regnete.

Gespannt hielt ich den Umschlag in der Hand. "Geld?" Sollte ich ihn jetzt schon öffnen? Ich tat es und fingerte zwei Eintrittskarten aus dem Umschlag heraus, hielt sie in der Hand, bewunderte sie, denn es war eine Einladung für unser nächstes Treffen. Mein Vater suchte Kontakt zu mir. Ich weinte. Im Umschlag waren zwei Tickets für das UEFA-Pokal-Halbfinalspiel "Eintracht Frankfurt gegen Bayern München", am 22.4.1980. Und 10 DM, die wohl für die Bahnfahrt gedacht waren.

Eintracht Frankfurt. Magie. Ein Schauer kroch mir den Rücken hinunter. Zu dieser Zeit war mein Fußballsachverstand allerdings nicht besonders ausgeprägt. Sagen wir: Ich war beeinflusst durch einen Onkel ("der junge Bauer mit den Elvis-Koteletten"), der samstags in den Gladbach-Farben die Sportschau verfolgen wollte. Ja musste, als Ausgleich für das harte Geschäft der Kirschernte: "Kesche robbe, anyone".

Am Morgen des 22. Aprils wachte ich zitternd auf, freute mich auf meinen Vater und auf Frankfurt, meine heimliche Liebe. Und auf mein erstes Fußballspiel in einem echten Stadion. (Hey, ich war 13! Heute bekommt man zum 10. Geburtstag eine Dauerkarte geschenkt.) Im Waldstadion. Sollte ich mich irgendwie vorbereiten? Wie musste man zu solch einem Spiel erscheinen? Brauchte ich noch spezielle Kleidung? Einen Schal? Ich fühlte mich so unaufgeklärt. Aber ich fühlte auch eine Unruhe in mir, als ob sich etwas Großes ankündigte.

In Frankfurt holte mich mein Vater am Hauptbahnhof ab. Wie verabredet, wie versprochen, alles klappte reibungslos. Ich traute bald den Warnungen - "Er wird nicht kommen. Er wird nicht kommen. Schmink Dir das ab!" - meiner Mutter nicht mehr. Und ich traf wieder all jene Leute, denen mich mein Vater ein paar Wochen davor vorgestellt hatte - "Das ist mein Sohn." Ich gehörte schon irgendwie dazu, war ein Teil seines Lebens. Und er war ein Teil von mir. (Ist das nicht immer so, bei Vater und Sohn?) Und alle fremden Männer (und hübsche junge Damen), die bald meine Bekannten werden sollten, trugen Kleidungsstücke, die mit einem ganz speziellen Tierwappen bestickt waren. Nur mein Vater nicht. Und ich auch nicht. Wir waren Sonderlinge. Mein Vater und ich mussten den Eindruck erwecken, als seien wir ein eingeschworenes Team. Dabei kannten wir uns kaum. "Das ist mein Sohn."

Der Marsch durch den Wald war einer Wallfahrt gleich. Ein Rausch, der in einer Ekstase mündete, die ich später noch oft erlebte. Mit Bockwurst, aber ohne Bier. Da war mein Vater streng. Er hatte Verantwortung für mich übernommen. Und genoss es. Und ich lies ihn diesen Moment genießen. Allerdings: "Dein Vater ist ein Säufer! Aber lerne ihn ruhig einmal kennen!" Das waren die Worte meiner Mutter, die noch heute hypnotisch nachhallen... "Lerne ihn ruhig einmal kennen!" Ich traute ihren Warnungen längst nicht mehr. Aber konnte ich meinem Vater vertrauen?

Wir schlurften zu unseren Stehplätzen. Aufgeheizte Stimmung. Fangesänge rund um das Stadion. "Wir ziehen den Bayern die Lederhosen aus!" Mein Vater hielt meine Hand, drückte sie alle zwei oder drei Minuten, um sich zu vergewissern, dass dieser Traum noch andauerte. Er wollte nicht aufwachen. Es musste für ihn wie in einem Traum gewesen sein. Und genau so habe ich diesen Tag und die darauf folgende Nacht auch erlebt - wie einen Traum. Alle zwei oder drei Minuten drückte er meine Hand. Genau das gleiche tue ich heute bei meinen Töchtern.

Das Spiel erlebte ich wie in Trance. Unendlicher Jubel. "Wir ziehen den Bayern die Lederhosen aus!" Als es in die Verlängerung ging, hatte mich der Eintracht-Virus gepackt. Endgültig. Ich erlebte die Geburt eines Adlers, in mir und an mir und mit mir. Ich wurde geboren - oder wiedergeboren - als Adler. Es war wie eine Taufe, dieser grenzenlose Jubel nach dem Abpfiff! Wildfremde Menschen lagen sich in den Armen, umarmten auch mich, küssten mich, gratulierten mir. Zu meiner Taufe? Zu meiner Geburt? Es war mittlerweile stockfinster, bis auf den surrealen Schein der Flutlichter.

Ganz dumpf hörte ich "UEFA-POKAL", immer leiser und leiser werdend. Erinnerungen, die verblassen, verschwimmen...

Mein Vater brachte mich am nächsten Tag - verabredungsgemäß - zum Hauptbahnhof. Ich trug meine Nabelschnur noch mit mir herum, sie hatte sich um den Hals gewickelt, wie von selbst, aber sie erstickte mich nicht. Meine Nabelschnur, mein Schal mit dem Adler. Ich hatte sie selber durchgeschnitten und das Blut abgeleckt.

Wir umarmten uns wie zwei, die sich gefunden hatten und nie wieder verlieren wollten. Wir schworen uns, Briefe zu schreiben, zu telefonieren, uns regelmäßig zu treffen. Aber das nächste Treffen sollte genau 20 Jahre später stattfinden.

Ich erfuhr erst sehr viel später, dass mein Vater, genau in der Woche als Eintracht Frankfurt den UEFA-Pokal gewann, eine Haftstrafe antreten musste. Ich lebte im Taumel und er taumelte dem Abgrund entgegen. Bittersüße Ironie.

1992, ein seltsames, verrücktes und grausames Jahr für mich, meinen Vater und die Eintracht. In vielerlei Hinsicht. Nie hat ein Sprichwort besser gepasst als in diesem Jahr: "Etwas" steht auf Messers Schneide. Die Eintracht. Mein weiteres Leben, das meines Vaters.

April, 1992. Berlin, Warschauer Straße. Ich stand kurz davor mein Kunststudium in Hamburg aufzugeben und war zu einer Freundin gezogen. Nach Berlin, in die Warschauer Straße 12. Durch einen Tipp der Frankfurter Meldebehörde wähnte ich meinen Vater in Berlin. Ich wollte ihn sehen. Ein ganz einfaches Bedürfnis. Aber wo sollte ich mit der Suche anfangen?

Es sollten tatsächlich noch knappe 8 Jahre vergehen, bis ich meinen Vater endlich aufspürte. Dabei wohnte er nur wenige Häuser weiter in der Warschauer Straße 54. Wir waren uns so nah und doch so fern. In dieser Zeit. Bittersüße Ironie, die zweite.

Einen knappen Monat später verspielte die Eintracht in Rostock die Deutsche Meisterschaft. Auch sie war so nah dran. Das ist der zweite Punkt, wenn ich an die Eintracht denke. Aber eigentlich ist dieser zweite Punkt auch ein wunder Punkt, oder nicht?

Mit dem dritten Abstieg der Eintracht geht das Schicksal einen weiteren bittersüßen, ironischen Weg. Mein Vater starb am 1.11.2003, am 11. Spieltag der Bundesligasaison 2003. An diesem Tag verlor ich meinen Vater, die Eintracht dagegen nur ein Spiel. Vielleicht legte sie aber mit dem 1:3 gegen den späteren Meister Werder Bremen bereits einen Grundstein für ihren - unausweichlichen, aber vermeidbaren? - Abstieg.

Ich überlasse es euch, die ihr nun die Geschichte von der Eintracht, meinem Vater und mir kennt, zu beurteilen, was unausweichlich und was vermeidbar ist. Im Leben wie im Sport.

Petra Hermann, im wirklichen Leben Uwe Knott aus Mainz-Finthen und Eintrachtfan seit 1980.

 

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