Schachtjor Donezk - Eintracht Frankfurt

UEFA-Cup 1980/1981 - 1. Runde, Hinspiel

1:0 (1:0)

Termin: 17.09.1980
Zuschauer: 46.000
Schiedsrichter: Courtney (England)
Tore: 1:0 Vitali Staruchin (22., Elfmeter)

 

 

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Schachtjor Donezk Eintracht Frankfurt

  • Viktor Tschanow
  • Valeri Gorbunow
  • Alexej Warnawski
  • Vladimir Pyanykh
  • Viktor Kondratow
  • Valeri Rudakow
  • Michael Sokolowski
  • Nikolai Fedorenko
  • Vitalij Staruchin
  • Wladimir Malij
  • Igor Simonov

 


 

Wechsel
  • Anatoli Radenko für Valeri Gorbunow (59.)
  • Vladimir Malyi für Nikolai Fedorenko (68.)
Wechsel
Trainer
  • Viktor Nosov
Trainer


 

Nie wieder nach Donezk!

Nach dem in den letzten Minuten herausgeschossenen Sieg gegen 1860 München geht es in die Ukraine zum sowjetischen Pokalsieger Schachtjor Donezk. „Mensch, uns fehlt ja die halbe Mannschaft“, hatte Vizepräsident Lindner schon am Samstag vor dem Spiel gegen die Münchner Löwen gestöhnt und am Mittwoch wird es nicht anders sein. Neben den wegen der zweiten Gelben Karte aus dem letztjährigen europäischen Wettbewerb gesperrten Pezzey fallen ein halbes Dutzend Akteure aus: Harald Karger, Helmut Müller, Bernd Nickel und Bum-Kun Cha sowie Jürgen Pahl und Norbert Nachtweih. Denn auch die vage Hoffnung auf einen Einsatz der beiden Letztgenannten hat sich nicht erfüllt. „Die Verletzungen sind offensichtlich schlimmer, als zunächst angenommen“, klagt Eintracht-Manager Udo Klug und Trainer Lothar Buchmann präzisiert: „Der Torro (Pahl) hat noch starke Schmerzen in der Schulter. Norbert bekommt erst heute die Gipsschale ab. Das reicht für beide nicht. Selbst am Samstag in Bochum werden sie nicht dabei sein. Ich plane mit Nachtweih und Pahl erst wieder für das Heimspiel gegen Duisburg.“

Natürlich spielt auch Cha, der am Samstag zum ersten Mal nach seiner in Leverkusen erlittenen Verletzung wieder ein Heimspiel der Eintracht besuchte und am Sonntagvormittag mit dem Lauftraining beginnt, in den aktuellen Planungen Buchmanns keine Rolle. Als er nach einer Stunde Rundendrehen und etwas Gymnastik für die Fotografen kurz den Ball antippt, wird er sogleich vom besorgten Trainer gebremst: „Mach‘ langsam. Wenn du in 14 Tagen wieder dabei bist, reicht es uns.“ Mannschaftsarzt Dr. Jost Runzheimer rechnet jedoch nicht ganz so schnell mit dem Stürmer: „Noch drei bis fünf Wochen wird‘s dauern, bis er wieder spielen kann.“ Die Aufregung der letzten Wochen, als die sowjetischen Behörden zunächst keine Visa für Bum-Kun Cha, Norbert Nachtweih und Jürgen Pahl ausstellen wollten, war also umsonst. Die mittlerweile eingetroffenen Visa werden nicht benötigt.

„Was soll‘s? Wir nehmen es, wie es ist“, bleibt Buchmann angesichts der Ausfälle gelassen und ist gegen Neuverpflichtungen: „Wir haben im Moment im Kader absolute Ruhe und ein glänzendes Verständnis untereinander. Neuzugänge, schon Spekulationen darüber, können diese Ruhe beeinträchtigen. Zunächst vertraue ich mal unseren jungen Spielern, wie z. B. Blättel, Hönnscheidt, Schaub und Gruber. Ich erwarte von ihnen, dass sie schon in Donezk ihre Chance beim Schopf packen.“ „Jetzt müssen eben die Jungen ran“, sagt auch Klug und zieht einen Vergleich zum „Schalker Kindergarten“: „Deren Durchschnittsalter liegt viel höher.“ „Jetzt müssen sie mal beweisen, dass sie das können, was sie sonst immer wollen“, gibt Buchmann seinen Talenten mit auf den Weg.

Das gilt auch für den 19-jährigen Michael Blättel, dem Buchmann nach dem Abschlusstraining mitteilt: „Du wirst in Donezk eingesetzt. Du hast in letzter Zeit einen hervorragenden Eindruck auf mich gemacht.“ „Ich habe darauf gehofft, aber nicht damit gerechnet zu spielen“, sagt Blättel vor dem Abflug auf dem Frankfurter Rhein-Main-Flughafen: „Am Anfang hat es gar nicht gut ausgesehen, doch inzwischen habe ich das Gefühl, durchaus mithalten zu können.“ Zeit, seine Familie zu informieren, hat er nicht mehr gefunden: „Die wird‘s hoffentlich aus der Zeitung erfahren.“

Zu dem aus Präsident Achaz von Thümen, Vizepräsident Dieter Lindner, Manager Klug, Mannschaftsarzt Dr. Runzheimer, Masseur Christian Schmidt-Rönnau, Zeugwart Anton Hübler sowie den Trainern Buchmann und Meyer bestehenden Tross aus Funktionären und Betreuern reisen neben den beiden Torhütern Funk und Jüriens nur 13 Feldspieler mit. „Natürlich haben wir eine realistische Chance, gut abzuschneiden. Unser Vorteil ist, dass wir beim Auswärtsspiel nur reagieren müssen und die Initiative dem Gegner überlassen können. Mit bedingungslosem Einsatz können wir uns gut aus der Affäre ziehen“, lässt sich Buchmann nicht beirren: „An der Taktik tüftele ich noch. Ich versuche jedem Spieler die Rolle zu geben, in der er seine beste Leistung bringen kann. Stur defensiv wird unsere Einstellung aber sicher nicht sein.“

„Von hinten heraus in die Spitze stoßen. Das liegt ihm am besten“, weist Buchmann Blättel die für ihn angedachte Position zu und verzichtet auf den Siegtorschützen aus dem Finalrückspiel gegen Mönchengladbach: „Fred Schaub hat gegen 1860 München schwach gespielt. Ich vertraue Hönnscheidt. Der Junge kann auch mal den Ball halten, wenn‘s stürmisch wird!“ „Wir werden sicher in die Abwehr gedrängt. Aber wir müssen uns immer wieder freimachen und kontern“, fordert Buchmann von seiner Rumpftruppe: „Wir müssen in Donezk unbedingt ein Tor schießen! Das ist wichtig zum Weiterkommen.“

Ihr Reiseziel erreichen die Hessen mit zwei Stunden Verspätung, weil die sowjetischen Zöllner bei der Einreise an Fred Schaubs Pass Anstoß nehmen, was eher wie eine Schikane als tatsächliches Bedenken wirkt. Wohl dem, der die Zeit des Wartens nutzen kann, um etwas über die Stadt der Gegners zu erfahren: Donezk, das im Zentrum des Kohlereviers Donbass liegt, hieß von 1924 bis 1961 Stalino und wurde im zweiten Weltkrieg nahezu zerstört. In den 60er Jahren wurde die wiederaufgebaute Millionenstadt von der UNESCO als grünste Industriestadt in ihrer Einwohnerklasse ausgezeichnet, doch davon bekommt die Frankfurter Delegation wohl kaum etwas mit.

„Pezzey wird uns als Turm in der Schlacht fehlen“, fürchtet Eintracht-Kapitän Bernd Hölzenbein, was in Anbetracht der zehntausenden von Toten während der deutschen Besatzungszeit zwischen Oktober 1941 bis September 1943 eine unglücklich gewählte Formulierung ist. Tatsächlich ist es aber so, dass sich die Eintracht vor den 46.000 Zuschauern, von denen die meisten Soldaten sind, von Beginn an in einer Art Belagerungszustand wiederfindet. Lediglich Werner Lorant gelingt es nach 11. Minuten aus gut 30 Metern Entfernung auch mal einen Schuss auf den Kasten der Gastgeber abzugeben. Lorants Versuch bereitet Keeper Tschanow zwar einige Mühe, doch es ist für lange Zeit das letzte Mal, dass der Titelverteidiger gefährlich vor dem gegnerischen Tor auftaucht.

Weitaus mehr zu tun als Tschanow hat Klaus Funk. Das in Frankfurt als „Fliegenfänger“ verschriene Nervenbündel, das abgegeben werden sollte und beim ersten Pflichtspieleinsatz gegen 1860 München am letzten Wochenende wiederholt patzte, gibt sich überraschenderweise keine Blöße. Was auf seinen Kasten kommt, wird seine sichere Beute. Selbst brandgefährliche Schüsse in der 3., 10. und 20. Minute pariert er glänzend.

Die erste Angriffswelle der Gastgeber scheint gerade abzuebben, da bekommt es Körbel im Strafraum mit Staruchin zu tun. Staruchin kommt zu Fall, der Schiedsrichter pfeift Elfmeter und Körbels Protest verhallt beim englischen Referee Courtney ohne Eindruck zu hinterlassen: „Staruchin hat mich zuerst am Trikot gezerrt.“ Der Gefoulte tritt zur Ausführung an und lässt Funk keine Abwehrchance. Groß ist nun der Jubel um den aktuellen Fußballer des Jahres in der Sowjetunion, der im letzten Jahr mit 26 Ligatreffern Torschützenkönig wurde, nachdem er 1974 letztmalig zweistellig erfolgreich gewesen ist und sich auch in der aktuellen Saison wieder auf das normale Maß eingependelt hat.

Doch wichtiger als Staruchins Ladehemmungen sind die Defizite der Eintracht in der Offensive. Nach vorne geht weiterhin nichts. Der pfeilschnelle Cha wird schmerzlich vermisst und ohne Nickel und Nachtweih fehlt es an Kreativität. Hölzenbein und Ronald Borchers können keine Impulse setzen und Lottermann läuft zwar viel, aber eben nur mit und nicht voran. Anders verhält es sich bei Werner Lorant, an dem sich gerade die jüngeren Spieler orientieren können.

Andererseits lassen die Frankfurter vor dem eigenen Tor auch nicht mehr viel zu. Nur zwei gefährliche Situationen muss man im strömenden Regen bis zum Halbzeitpfiff noch überstehen: In der 31. Minute trifft der offensive Verteidiger Warnawsky das Außennetz, und Fedorenko verfehlt sieben Minuten später aus 16 Metern das von Funk gehütete Gehäuse denkbar knapp.

Unverändert kehren die beiden Mannschaften aus den Kabinen zur zweiten Halbzeit zurück. Und dieses Mal ist es die Eintracht, die das erste Ausrufezeichen setzt: Nach einem Rückpass von Borchers versucht sich Hönnscheidt, dessen Schuss von Gurbanow abgefälscht wird. Doch Tschanow fischt den Ball aus dem Torwinkel.

Auf dem durchweichten und mittlerweile umgepflügten Boden kommt es danach weder hüben noch drüben zu einer größeren Torgelegenheit. Das liegt hauptsächlich an der beherzt kämpfenden Frankfurter Elf, deren glänzende Abwehr vom überraschend kopfballstarken Willi Neuberger sicher dirigiert wird. Körbel bekämpft Staruchin weiterhin bravourös und Michael Sziedat kann auf dem teils glatten, teil unebenem Geläuf seine Stärke beim Grätschen voll ausspielen. Lediglich seine Fehlpässe trüben wie zweimal bei Wolfgang Trapp, der aber seinen Gegenspieler sicher beherrscht, den Gesamteindruck etwas.

Die Zuschauer pfeifen nun auf den nachlassenden sowjetischen Pokalsieger, der seinem Anrennen aus dem ersten Durchgang kräftemäßigen Tribut zollen muss. Das verschafft der Eintracht ebenso Luft und Räume wie die sich im Mittelfeld immer wieder anbietenden Borchers und Lorant. Beide gehen weite Wege, doch es sind besonders die Sprints von Borchers über das halbe Feld, die für deutliche Entlastung sorgen. Verschnaufpausen verschafft der Eintracht auch der fleißige Hölzenbein durch geschicktes Ballhalten, ohne jedoch in Tornähe zum Abschluss zu kommen.

Die beiden Wechsel auf Seiten der Gastgeber bringen keine Verbesserung, die beiden Einwechslungen von Trainer Bruchmann keine Verschlechterung. Norbert Hönnscheidt, der wie ein Berserker gekämpft hat, aber deutliche Defizite bei der Ballannahme zeigte, wird ab der 66. Minute durch Rigobert Gruber ersetzt und Schaub kommt in den letzten 19 Minuten für Blättel, der insgesamt mit geschicktem Kurzpassspiel und auch mit mutigen Rettungstaten im eigenen Strafraum zu gefallen wusste. Die vier abwechselnd eingesetzten Talente halten mit und damit die Eintracht im Spiel.

Nachdem ein Blackout von Borchers in der letzten Minute folgenlos bleibt, pfeift Courtney ab und es sind die Verlierer, die mehr zu jubeln haben als die Sieger. „Klasse, Klaus“, klopft Kapitän Hölzenbein seinem Torhüter auf die Schulter und Trainer Buchmann weiß ebenfalls, bei wem er sich zu bedanken hat: „Ein besonderes Lob muss ich Torwart Klaus Funk aussprechen, er hat absolut fehlerlos gehalten. Das ist das größte Kompliment, das ich ihm machen kann.“ Funk hat für seine Leistungssteigerung eine einfache Erklärung: „Auswärts kann ich befreiter spielen, da werde ich von den Fans nicht ausgepfiffen.“

„Ich hatte nichts mehr zu verlieren“, findet der Keeper einen weiteren Grund für seine erstaunliche Nervenstärke und bedankt sich bei Buchmann: „Der Trainer hat voll hinter mir gestanden, mir auch nach den Patzern gegen 1860 den Rücken gestärkt.“ Doch nicht nur er – denn wie vor einem Jahr in Aberdeen, als er ähnlich stark hielt, holte er sich zuvor ärztliche Hilfe. Dr. Lademann, ein Psychologe aus Bad Nauheim, fördert seine Konzentration mit autogenem Training: „Ich brauche, so etwas. Ich bin sensibel und Hilfe von außen tut mir gut.“ Hilfe erhielt Funk auch von Mannschaftsarzt, der ihm „Konzentrationspillen“ verabreichte. Die aber, klärt Dr. Runzheimer nun auf, „waren einfache Vitaminpillen.“ Der Kopf spielt eben immer mit und mitunter eine größere Rolle als man denkt.

Unterdessen freut sich Manager Klug: „Die Achse Funk-Neuberger-Körbel war einmalig!“ „Ich bin mit der kämpferischen Leistung und dem Ergebnis sehr zufrieden“, strahlt auch der manchmal etwas verbissen wirkende Trainer: „Meine Spieler haben sich bis zur Erschöpfung ausgegeben.“ „Mit diesem 0:1 können wir leben“, meint Klug und Hölzenbein stimmt zu: „Dieses Ergebnis lässt uns alle Türen offen.“ „Ein gutes Ergebnis. Wir haben uns eine glänzende Ausgangsposition geschaffen. Für das Rückspiel bin ich jetzt optimistisch, wir haben eine sehr gute Chance, eine Runde weiterzukommen“, bilanziert Buchmann: „Ich glaube, das ist im Rückspiel zu schaffen.“ „Die spielerischen Mittel der Russen reichen nicht aus, um uns zu Hause in Schwierigkeiten zu bringen“, glaubt Borchers und Neuberger ist überzeugt: „Mit Bruno Pezzey, Norbert Nachtweih und vielleicht sogar Bum-Kun Cha fegen wir die weg.“


Epilog

Um 6:20 Uhr soll die Charter-Maschine der Frankfurter von Donezk nach Moskau starten, doch dichter Nebel verhindert den Abflug. Die Reisegruppe wird in einen kargen Raum geführt, in dem das Warten auf harten Polstern die Laune bei den Anhängern sinken lässt, zumal Spieler und Offizielle mit dem Bus ins Hotel zurückgefahren werden. Wie Joachim Bremser in der „Bild“ berichtet, wird die Reiseleitung von einigen übel beschimpft und einer der Mitreisenden wird gegenüber Wolfgang Zenker, der einige der Spieler berät, tätlich: Er schüttelt Zenker und droht ihm grundlos Schläge an, bevor er von zwei besonnenen Fans zur Räson gebracht wird. Ob es an der aufgeheizten Stimmung liegt, dass endlich doch noch ein Frühstück serviert wird? Als das Flugzeug um 12:04 Uhr endlich Richtung Moskau startet, sind auch die Spieler und Funktionäre wieder da. Nach der Zwischenlandung in Moskau um 13:30 Uhr dauert es bis um 18:34 Uhr, bevor alle erschöpft auf dem Rhein-Main-Flughafen ankommen – mit einer Verspätung von sechseinhalb Stunden. Kapitän Bernd Hölzenbein spricht aus, was alle denken: „Nie wieder nach Donezk!“ (rs)

 

 

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