Eintracht Frankfurt - VfB Stuttgart

Bundesliga 1973/1974 - 4. Spieltag

4:3 (0:0)

Termin: Sa 25.08.1973, 15:30 Uhr
Zuschauer: 35.000
Schiedsrichter: Gerd Hennig (Duisburg)
Tore: 0:1 Dieter Brenninger (59.), 0:2 Willi Entenmann (61.), 0:3 Hans Ettmayer (66.), 1:3 Bernd Nickel (68.), 2:3 Roland Weidle (76.), 3:3 Bernd Hölzenbein (82.), 4:3 Bernd Hölzenbein (84.)

 

>> Spielbericht <<

Eintracht Frankfurt VfB Stuttgart

 


  • Gerhard Heinze
  • Manfred Weidmann
  • Reinhold Zech
  • Willi Entenmann
  • Egon Coordes
  • Hermann Ohlicher
  • Karl-Heinz Handschuh
  • Dieter Brenninger
  • Roland Mall
  • Hans Ettmayer
  • Heinz Stickel

 

Wechsel Wechsel
Trainer Trainer
  • Hermann Eppenhoff

 

 

Auszug aus der Radioreportage

Seltene Sternstunde

Ein außergewöhnliches Spiel verlangt nach einem außergewöhnlichen Spielbericht. Dieser Bericht schildert deshalb nicht nur die nahezu unglaublichen Geschehnisse auf dem Platz, sondern vermittelt durch den Augenzeugenbericht eines Eintrachtfans aus dem G-Block auch eine der emotionalen Achterbahnfahrten, die die Eintracht wie kein anderer Verein ihren Anhängern immer wieder beschert. Dieser Fan erlebt das Spiel so:

Es ist nach langen Jahren mal wieder eine gute Saison. Die Eintracht hat zuvor in Köln 1:1 gespielt, gegen Duisburg 3:0 sowie in Lautern 4:1 gewonnen und befindet sich auf Platz 4. Stuttgart ist ebenfalls gut gestartet und sogar Tabellenzweiter. Mithin also ein echtes Spitzenspiel.

Ein Spitzenspiel, bei dem eine Eintracht aufläuft, die sich in dieser Saison daran macht, eine Spitzenmannschaft zu werden. Dabei ist zu Saisonbeginn trotz einiger Abgänge nur ein neuer Spieler zu den Adlern gestoßen: Hans-Joachim Andree aus Dortmund. "Beide Teams sind überraschend gut gestartet und stehen sicher mit etwas Glück so weit oben. Aber das ist noch nichts Echtes wie bei Bayern München", meint Trainer Weise, der das letzte Spiel der Stuttgarter beobachtet hat. Auch von der Bilanz der Eintracht gegen den VfB lässt er sich nicht blenden, obwohl die in den letzten sieben Jahren beeindruckend ist: 14:0 Punkte, 22:2 Tore.

Trainer Weise vertraut der Elf die am Betzenberg den roten Teufeln, den Zahn gezogen hat: im Tor Kunter, in der Abwehr mit Vorstopper Kliemann, Libero Trinklein, die beiden Außenverteidiger Andree und Reichel, im Mittelfeld Hölzenbein, Körbel, Weidle und im Sturm Rohrbach, Grabowski und Weidle. Bernd Hölzenbein ist also mit von der Partie, obwohl er am Tag zuvor zum Elektrokardiogramm ins Höchster Kreiskrankenhaus gebeten wurde. "Er hat schon seit 14 Tagen nicht voll trainiert", kommentiert Trainer Weise: "Eine Schwächeperiode." Hölzenbeins Blutdruck – so wurde nun festgestellt – ist zu niedrig. Medikamente sollen zukünftig Abhilfe schaffen.

Beim VfB sind dagegen zwei treffsichere Schütze nicht mehr dabei: Wolfgang Frank und Horst Köppel, jeweils mit 11 Treffern auf Rang 2 der internen Torschützenrangliste des VfB der letzten Saison, sind abgewandert. Frank steht nun in Diensten von Eintracht Braunschweig, während Köppel zum zweiten Mal vom VfB an den Bökelberg zur Borussia gewechselt ist. Mit "Buffy" Ettmayer, der in der letzen Spielzeit ebenfalls auf 11 Tore kam, und Karl-Heinz Handschuh, dem mit 13 Treffern erfolgreichsten Torschützen des VfB 72/73, sind jedoch weiterhin torgefährliche Spieler für die Schwaben am Start. Für Torraumszenen sollte also auf beiden Seiten gesorgt sein und das Wetter spielt heute auch mit:

Es ist ein heißer Sommertag. Das Stadion ist im Umbau für die WM 74 und mit 35.000 hoffnungsfrohen Zuschauern ausverkauft.

Die Hoffnung wird nicht enttäuscht, das Spiel ist von Anfang an lebendig. In der 2. Minute wartet die Eintracht, deren erster Angriff abgewehrt wurde, vergeblich auf den Abseitspfiff. So dribbelt Zech allein in den Frankfurter Strafraum hinein, zögert aber mit dem Schuss, so dass Trinklein ihn einholen und den Ball zur Ecke klären kann. Auf der anderen Seite wird Grabowski von Entenmann vor dem Stuttgarter Strafraum gelegt. Den Freistoß knallt Kliemann wuchtig auf den Kasten von Heinze, doch der Ball bleibt in der Mauer hängen. Gleich darauf legt Rohrbach zu Hölzenbein zurück, dessen Schuss aber ebenfalls abgeblockt wird.

Die Eintracht drängt und fängt gleichzeitig die Stuttgarter Angriffsversuche in der Entstehung ab. Körbel versucht sich als Ettmayers Schatten, Kalb ist ständiger Begleiter Handschuhs und Kliemann verdirbt Ohlicher den Spaß. Der vergeht aber auch Kalb nach einer Viertelstunde: Nach einer Flanke von Hölzenbein kommt Kalb auf der Torraumlinie frei zum Schuss, anstatt aber an Heinze vorbeizuschieben, drischt er mit voller Wucht gegen den Ball, der hoch über der Querlatte ins Aus geht ... Die Eintrachtfans stöhnen auf: Eine kapitalere Torgelegenheit kann man kaum noch haben.

Dem Spiel tut die vergebene Großchance keinen Abbruch, beide Mannschaften schenken sich in den Zweikämpfen nichts. Hölzenbein ist der niedrige Blutdruck nicht anzumerken, er spielt im Gegenteil so, als würde sein Kessel ein Ventil für den enormen Druck suchen. Auch Neuzugang Andree rückt immer wieder mit auf, die Abwehr um Weidmann, Coordes und Entenmann steht jedoch gut. Grabowski ist engagiert, spielt aber manchmal eine Idee zu spät ab. Zu sehr läuft außerdem das Spiel der Eintracht durch die Mitte und vernachlässigt die Flügel. So ist der stabilen und massiven Gästeabwehr nur schwer beizukommen. Die Stuttgarter, die über Handschuh als Schaltstation und Ohlichers Schnelligkeit zum Erfolg kommen wollen, haben mit der Abseitsfalle der Frankfurter große Probleme. Die Abwehr der Eintracht ist zudem meist auf der Hut, wenn auch Kliemann manchmal nicht ganz sicher wirkt.

Als Trinklein und Weidle sich gegenseitig bei einem Kopfball in der Nähe des VfB-Tores behindern, ist diese Szene ein Sinnbild des Übereifers, mit dem sich die Gastgeber das Leben selbst schwer machen. Gelegenheiten das erste Tor zu erzielen, haben aber beide Teams weiterhin. So tanzt der Ball nach der ersten Eintrachtecke und dem folgenden Kopfball von Weidle auf der Querlatte und vor dem anderen Gehäuse schlüpft in der 31. Minute Entenmann bei einem der VfB-Konter durch. Dr. Kunter eilt aus seinem Kasten, der Stuttgarter hebt den Ball hoch über den Schlussmann, aber auch über das Tor hinweg. Danach kommt auch Ohlicher zum Schuss, der Eintrachtkeeper kann den Ball nur abprallen lassen, fängt aber den Nachschuss sicher im hohen Rückwärtssprung.

Ein tolles Spiel, aber am Ende der ersten Halbzeit sind auf beiden Seiten noch keine Tore gefallen. Daran trägt vor allen Dingen der Stuttgarter Keeper Gerhard Heinze ein gerüttelt Maß an Schuld. Größe ist eben doch nicht alles, wie man auch am famosen Eintracht-Keeper Dr. Kunter sehen kann, der gar nur 173 cm misst. Bei allem Lob für die famosen Leistungen der Torhüter, stellt das 0:0 den Stürmern allerdings kein gutes Zeugnis aus. "Bei uns gibt es noch viel zu verbessern, vor allem mussten wir schon klar führen", bemängelt Trainer Weise in der Pause zu Recht.


Brenninger gegen Körbel

Bei der Eintracht fehlt es an einem echten Rechtsaußen, denn Grabowski drängt immer wieder zur Mitte und Weidle hängt meist etwas zurück. Rohrbach legt zudem auf dem linken Flügel mehr Pausen ein als in den Spielen zuvor. In der 48. Minute bringt Weise Bernd Nickel für Kalb. Vielleicht gelingt es ja Nickel mit einem seiner gewaltigen Schüsse, die als "Flattermänner" den gegnerischen Tormann schon oft entscheidend irritiert haben, den Bann zu brechen? Aber erst einmal geht auf der anderen Seite Zech an Trinklein vorbei, zieht ab und … trifft nicht. Besser zielt Kliemann, der Heinze in der 53. Minute mit einem Schuss aus 25 Metern prüft. Heinze muss sich gewaltig strecken, aber überwinden lässt auch er sich noch nicht.

Allein in der ersten Halbzeit ließen die Frankfurter den VfB elfmal in die Abseitsfalle tappen, doch dieses Manöver ist nicht ohne Risiko, vor allem wenn wie in der 52. und 53. Minute der Pfiff des Schiedsrichters ausbleibt. Zweimal hintereinander vertraut Hennig zu Unrecht auf die Anzeige seines Linienrichters und nur mit viel Glück kann Frankfurts überragender Torhüter Dr. Kunter vor Brenninger und Stickel klären.

Die Stuttgarter suchen weiter beherzt ihre Chance. Sie merken, dass die Frankfurter Abwehr bedenkliche Schwächen hat. Schwächen, die Dieter Brenninger, der frühere Stürmer des FC Bayern München, in der 59. Minute ausnutzen kann. Ettmayer setzt den rechten Verteidiger Weidmann mit weitem Pass auf dem rechten Flügel ein, Rohrbach kommt seinem Gegenspieler nicht nach, der flankt an Trinklein vorbei, Brenninger hält den Fuß dazwischen und lenkt das Leder ins Netz: 0:1.

Nur zwei Minuten später macht sich Willi Entenmann zu einem Solo auf. Leider wird der Libero der Stuttgarter dabei nicht ernsthaft angegriffen, auch nicht von seinem Kollegen Trinklein. Sicher, Trinklein ist ein Genießer, doch hier genießt er leider den fußballerischen Leckerbissen seines Gegenübers eine Spur zu sehr: 0:2.

Zwei Tore der Schwaben und ihre gefährlichsten Schützen haben mit Handschuh und Ettmayer noch nicht einmal getroffen. Das ändert sich allerdings in der 66. Minute. Hans "Buffy" Ettmayer stößt aus der zweiten Reihe vor und Ohlicher legt quer zu dem Österreicher, der aus 18 Meter mit gewohnter Wucht ins untere Toreck trifft. 0:3. So kann es gehen ...

Während die erste Halbzeit noch torlos bleibt, steht es gute 20 Spielminuten später fast aussichtslos 0:3. Die Eintracht findet einfach kein Mittel, Stuttgart spielt clever das Spiel runter. Nein, nicht ganz: Die Schwaben wollen noch mehr. Ein großer Fehler, wie sich bald zeigt.

Meine Heimat ist der G-Block. Mit etwa 10 Leuten rollen wir nach dem dritten Gegentor unsere großen Fahnen ein, trotten nach oben und gehen auf der Rückseite die Stufen herunter zum Blockausgang. Zu groß ist der Rückstand und zu klein die Hoffnung, auch in Anbetracht der Hitze.

Ein paar Meter weiter ist ein Getränkestand, wo wir noch einmal anhalten und uns etwas Kühles gönnen. Wir stehen desillusioniert da, als plötzlich Torjubel aufbrandet! Wir rechnen mit dem 0:4, erkennen jedoch nach ein paar Sekunden, dass die Eintracht verkürzt hat. Die Niedergeschlagenheit weicht innerhalb nur einer Sekunde.

Es ist die 68. Minute als Dr. Hammer den niedergeschlagenen, aber nie aufsteckenden Adlern die gestutzten Flügel wieder aufrichtet und den Höhenflug der Eintracht in für ihn untypischer Manier einleitet. Es ist keiner seiner gewaltigen Schüsse, der seine Farben wieder ins Spiel zurück bringt, sondern letzter Einsatz: Nach einer Rohrbach-Flanke kommt der Ball über Hölzenbeins Kopf im Strafraum der Schwaben in Reichweite von Nickel, der das Leder mit einem langen Bein erreicht und über die Torlinie drückt. Nur noch 1:3. Die Frankfurter erwachen zu neuem Leben und die Zuschauer auch:

Sofort hasten wir wieder die Stufen zum Block hinauf. Dort stehen aber eine Menge Leute herum, ein Durchkommen ist unmöglich und zu sehen ist auch nichts.

Was tun?

Wir rennen wieder runter, rüber zum Block H und dort wieder rauf.

Vom G-Block durch einen Zaun getrennt, gibt es einen etwa einen Meter breiten Streifen oberhalb des H-Bocks und seitlich vom oberen Teil des G-Blocks. Unterhalb dieses Streifens beginnt der Abhang mit der Bepflanzung von Bäumen und Sträuchern.

Vom H-Block aus, in den man im Übrigen wegen der vielen Leute auch nicht mehr reinkommt, kann man auf diesen schmalen Streifen raufkraxeln. Auch dort stehen zwar schon etliche Leute, aber es ist noch etwas Platz und wir quetschen uns dazu.

Inzwischen hat Trainer Weise reagiert und mit dem Nachwuchsmann Wolfgang Kraus für den müden Thommy Rohrbach noch einmal für zusätzlichen frischen Wind in der Offensive der Eintracht gesorgt. Auf den Rängen kehren weitere, bereits abgewanderte Zuschauer eilig zurück und auf dem Platz schaltet sich der Publikumsliebling Uwe Kliemann nun in den Angriff ein. Er muss sich während des Spiels pausenlos Mullbinden an seine Nase halten, die nach einem Zweikampf dick geschwollen ist. Die Eintracht wirft nun alles nach vorne.

Es dauert auch nicht lange, da fällt das 2:3, was schon sehr starke Turbulenzen zur Folge hat. Nach lebhaftem Jubel werden dann auch flugs die großen Fahnen wieder zusammengebaut, obwohl es dort kaum Platz zum Schwenken gibt.

Es sind nur drei Minuten seit der Einwechslung von Kraus vergangen, als Hölzenbein eine Ecke von rechts genau auf den Kopf von Kliemann tritt. Der "Funkturm" verlängert den Ball zu Weidle und der Schwabe im Eintrachtdress trifft aus etwa drei Metern Entfernung zum 2:3!

Die Stimmung im Stadion hat sich schlagartig geändert.

Nach dem 0:3 gab es keine Pfiffe. Warum auch? Die Eintracht spielte nicht schlecht, aber es gibt ja so Tage, an denen halt anscheinend einfach nichts klappt... Es herrschte einfach nur Stille.

Nach dem 1:3 gab es aufmunternde Anfeuerung.

Diese weicht nach dem 2:3 wilden "EINTRACHT! - (klatsch klatsch klatsch) - EINTRACHT!" – Stakkatos! Wir singen normalerweise schon eine Menge Lieder, aber das ist bei diesem Spiel und zu diesem Spielstand völlig irrelevant. Die Leute sind nun viel zu angespannt.

Es ist die 78. Minute und Hölzenbein bricht durch, schießt, die Zuschauer haben den Torschrei auf den Lippen, doch auf diesen erstirbt er wenige Sekundenbruchteile später: Außennetz! Doch es bleibt keine Zeit, dieser vergebenen Chance nachzutrauern, schon rollt der nächste Angriff auf das Gehäuse der Schwaben zu.

Eckball. Kliemann reckt sich, doch diesmal geht das Leder knapp an Kliemanns Kopf vorbei. Glück für den VfB, der den Ball aber nicht in den eigenen Reihen halten kann, zu groß ist der Druck der wie entfesselt aufspielenden Frankfurter.

Der nächste Angriff: Andree auf Hölzenbein, der gibt ab auf Grabowski, der passt zu Körbel, Körbel schießt ... Egon Coordes blockt den Ball und bekommt diesen mit voller Wucht in die Rippen. Das tut weh, aber Coordes nimmt das in Kauf: Der Ausgleich der Hessen würde dem Schwaben nach der 3:0-Führung wohl noch mehr Schmerzen bereiten ...

Ist jetzt die Zeit der Schmerzen für die Gäste gekommen? Schon wieder ist es Kliemann, wieder schraubt er sich hoch, wieder ist einer seiner Kopfbälle in Richtung des Heiligtums der Stuttgarter unterwegs. Heinze ist schon geschlagen, doch die Kugel senkt sich aus neun Metern auf die Latte und springt von dort ins Aus ...

Das Waldstadion ist mit Hexenkessel nur völlig unzureichend und nicht einmal andeutungsweise beschreiben. Es mag Worte geben, die Stimmung der Zuschauer zu beschreiben, die nun so elektrisiert sind wie eine Gitarre, die von Jimi Hendrix in Brand gesteckt wurde, aber wem fallen diese Worte jetzt ein? Wem fällt überhaupt etwas anderes ein als: "Eintracht! Eintracht! Eintracht!"

Keine Atempause, Chancen werden gemacht. 10 Minuten vor dem Ende wechselt Körbel die Seite, schlägt das Leder herüber zu Andree, Andree flankt den Ball in den Strafraum des VfB, der fliegt in Höhe des Elfmeterpunktes, abgewehrt, Nickel nimmt die Kugel direkt aus 25 Metern, der Ball fliegt in Richtung Tordreieck, doch Heinze fischt ihn mit einer tollen Parade aus dem Winkel!

"Eintracht! Eintracht! Eintracht!"

Auf dem Platz hat die Eintracht das Spiel schon längst an sich gerissen. Stuttgart kommt nicht mehr über die Mittellinie. Angriff auf Angriff brandet auf das Stuttgarter Tor. Und nun kommt es, wie es an diesem großen Tag in der Eintracht-Geschichte einfach kommen muss: Die Eintracht gleicht aus zum 3:3!

Es läuft die 82. Minute und es gibt Freistoß für die Eintracht: Uwe Kliemann spielt aus der Tiefe des Raumes einen steilen Pass auf Hölzenbein, der sich keine Sekunde zu früh löst, aus der Drehung schießt und diesmal Heinze keine Abwehrchance lässt: 3:3!

Überträgt sich die Stimmung der Spieler auf die Fans oder ist es umgekehrt? Ist es wichtig? Wer fragt im ekstatischen Rausch, wer damit angefangen hat?

Bei den Leuten gibt es kein Halten mehr.

Man weiß gar nicht mehr, was man zuerst tun soll: brüllen, springen wie ein wild gewordener Ochse, Leute umarmen, versuchen, die Fahne zu schwenken, in die weit verbreitete 3-Klang-Hupe, die einem um den Hals baumelt, reinpusten, das die Backen platzen ...

Das Spiel läuft weiter. Die Eintracht stürmt mit Mann und Maus. Die Zuschauer haben sämtliche Hemmungen fahren lassen und brüllen wie die Wilden. "EINTRACHT! EINTRACHT!" donnert es durchs Stadion. Niemand sitzt mehr auf seinem Platz. Stuttgart findet nicht mehr statt, wird nun förmlich hinausgefegt aus dem Stadion, von dem Orkan auf dem Platz und den Rängen!

"Eintracht! Eintracht! Eintracht!"

Schon wieder, nein, immer noch ist die Eintracht im Angriff. Der eingewechselte Kraus spielt den Ball auf Grabowski, Grabi schießt, das Tor ist leer, das ist das ... nein, in letzter Sekunde kann der Ball doch noch von einem Stuttgarter weg geköpft werden.

"Eintracht! Eintracht! Eintracht!"

Noch sechs Minuten. Die Schwaben versuchen einen Entlastungsangriff über Hermann Ohlicher, Körbel drängt ihn ab, Ohlicher spielt den Ball in seiner Not auf Handschuh, doch die Eintracht fängt das Leder ab. Kliemann führt die Kugel, geht an zwei Stuttgartern vorbei, wartet bis seine Kameraden nachrücken und spielt dann urplötzlich einen Steilpass über 30, 40 Meter in den Strafraum auf Hölzenbein, der wieder im richtigen Moment gestartet ist. Hölzenbein legt sich den Ball mit dem linken Außenrist etwa sechs Meter vor, überspurtet zwei Stuttgarter Abwehrspieler, lupft das Leder mit dem rechten Fuß über Torhüter Heinze hinweg und …

... das Spiel erhebt sich nun zur Legende: das 4:3!

Das Stadion bebt, wildfremde Menschen liegen sich in Rudeln in den Armen und springen und tanzen, als hätten sie alle Last der Welt abgeschüttelt, die Unsterblichkeit erlangt und noch ´nen 6er im Lotto obendrauf.

Von unserem Mob hinterm Zaun ist nichts mehr erkennbar. Arme, Beine, Köpfe, Fahnen, alles wie nach einem Wirbelsturm wild durcheinander gemischt und umhüllt von einer dicken Staubwolke. Wir verlieren nicht nur den Boden unter den Füssen, sondern purzeln anschließend in tiefer Glückseligkeit zwischen Bäumen und Sträuchern den Abhang hinunter.

Gert Trinklein kniet derweil im Stuttgarter Kasten hinter der Torlinie mit dem Rücken im Netz und hebt den Spielball über seinen Kopf als sei das verschmutzte Leder ein Pokal, den er eben errungen hat.

Von den Rängen erschallen nacheinander "Eintracht! Eintracht! Eintracht!"- und "Uwe! Uwe! Uwe!"-Sprechchöre. Nicht den zweifachen Torschützen erweisen die feinfühligen Fans ihre Referenz, sondern dem Mann, der mit seinem Willen seine Kameraden mitgerissen und dieses Spiel gedreht hat. Der Mann, der sich Mitte der zweiten Halbzeit bei einem Kopfball-Duell das Nasenbein brach und doch nie ans Aufgeben dachte: Uwe Kliemann. "Beim Luftholen, da rasselt es so in der Nase", sagt Kliemann hinterher, doch sein Trainer entgegnet: "Ein Kerl wie der Uwe wird damit schon fertig. Wenn es eine Zerrung oder ein Bänderdehnung wäre, würde ich mir mehr Sorgen machen."

Der VfB ist zu geschockt, um jetzt noch einmal ernsthaft Gegenwehr leisten oder gar den Ausgleich erzielen zu können. Und auch die Eintrachtspieler sind mit ihren Kräften am Ende: Hölzenbein stolpert ohne gegnerische Einwirkung völlig erschöpft über seine eigenen Füße und fällt glatt um.

Nun sind nur noch wenige Sekunden zu spielen, der Schiedsrichter schaut bereits auf seine Uhr, steckt die Pfeife in seinen Mund und

Schlusspfiff!

Selbst Schiedsrichter Gerd Hennig ist platt: "Also nee. So wat is mir noch nicht untergekommen. Sieben Tore in einer Halbzeit, und dat ganze Dingens auf den Kopf gestellt." Bundestrainer Helmut Schön, der dieses Mal bis zum Schlusspfiff im Stadion blieb, ist begeistert: "Ein Ausnahmespiel!" "Verdammt. Jetzt ist mein Blutdruck garantiert zu hoch", flachst der glückliche Hölzenbein. "Ich dachte nicht ans Aufhören", sagt Kliemann, dessen Nase noch eine Stunde nach dem Spiel nicht zu bluten aufhören will, "obwohl ich erfahren musste, dass da doch einer einen härteren Schädel hatte als ich. Der Stuttgarter Zech nämlich. Jetzt weiß ich auch, wie es ist, wenn einem der Cassius Clay eine schmiert."

"Du Glückspilz", sagt Stuttgarts Trainer Eppenhoff zu seinem Kollegen Weise, der gebeten wird, auf einen Stuhl zu steigen, damit man ihn besser sehen könne: "Ich will mich nicht größer machen als ich bin. Und so groß ist auch die Eintracht noch nicht. Wo wir in dieser Saison wirklich stehen, das zeigt sich Mitte Oktober." Die Erklärungsversuche der Trainer nach dem Spiel sind übrigens so hilflos wie kurz vorher die Abwehr der Schwaben im Angesicht des hessischen Sturmes, der über sie hereinbrach. "Für mich ist das unfassbar", sagt Eppenhoff: "Wenn man 3:0 vorne liegt, muss man abgebrüht genug sein, dieses Ergebnis zu halten. Wer glaubt schon an Wunder, hier aber geschah es. Und wir sind die Gelackmeierten. Jedenfalls haben wir keinen schlechten Eindruck hinterlassen. Die Eintracht aber ist vom Glück begünstigt jetzt gegen uns und am Dienstag in Kaiserslautern." "Das einzige, was mir hundertprozentig bei meiner Mannschaft imponierte, war, dass sie Moral hatte und nach dem 0:3 nicht aufgesteckt hat", meint Dietrich Weise und bremst die Euphorie: "Von einer so großen Mannschaft trennt uns allerdings noch eine ganze Welt. Das Klein-Klein-Spiel, die fehlende Gradlinigkeit im Angriff stimmen mich bedenklich. Es wurden zuviel Fehler gemacht, bis wir mit Wut im Bauch so spielten, wie es sein muss. Solche Sternstunden wie heute allerdings wiederholen sich selten." (rs)

Beim Gedanken an diesen Tag überkommt es mich noch heute, 30 Jahre später.

Zu allem Glück kommt noch hinzu, dass der Vater von einem unserer damaligen Jungs die Endphase des Spieles, die live und ungeschnitten im Radio übertragen wurde, auf Kassette aufgenommen hat. Eine Kopie davon habe ich hier zuhause.

Von Zeit zu Zeit, wenn ich etwas Aufmunterung nötig habe, höre ich es mir an. Die Klangqualität ist mies. Der Radioreporter ist nach dem 2:3 kaum mehr zu verstehen, so tobt die Kulisse. 15 Minuten Legende für die Ohren. Unbezahlbar.

Es sind Dinge wie diese, die mich auf ewig an diesen Verein binden. (km)


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